Es gibt Zutaten, die wir aus Überzeugung gern aus den INCI-Listen unserer Kosmetik verbannen möchten. Beim Thema Haare bewegen sich Silikone für viele auf der Pole Position der NoGos – und sind in echter Naturkosmetik auch nicht enthalten. Aber sind Silikone wirklich so schlecht wie ihr Ruf? Eine kritische Betrachtung.
Schein und Sein: Das können Silikone
Werfen wir zunächst einen Blick auf ihre Beschaffenheit: Silikone sind im Grunde farblose Kunststoffe, die meist aus Erdöl gewonnen werden. Ihr erkennt sie an den Endungen „-cone“ oder „-oxane“ in der INCI. Sie dienen in der Haarpflege vor allem als Filmbildner, das heißt sie legen sich um das Haar herum und sorgen für eine ebenmäßige Haaroberfläche. Durch das „Auffüllen“ von Unebenheiten und porösen Stellen entstehen Glanz und Kämmbarkeit. Klingt soweit ja ganz gut…
Leider bieten Silikone aber keinen echten Pflegeeffekt fürs Haar, sie sind nur schöner Schein, der gesunde Haarpracht vortäuscht. Silikone haben außerdem den Ruf, sich am Haar anzulagern und über das Abwasser die Umwelt zu belasten. In Naturkosmetik und vielen Clean Beauty Shampoos wird deswegen auf wirksame Öle, Proteine und Vitamine gesetzt. Diese können ohne die Zugabe von Silikonen einfacher in das Haar eindringen und eine nachhaltige Pflegewirkung erzielen.
Mehr als Schwarz und Weiß
Uns hat interessiert, warum der Rohstoff weiterhin in Haarpflege zum Einsatz kommt. Wir haben mit verschiedenen Herstellern und einem Umweltexperten gesprochen.
Zunächst haben wir Kontakt mit Julian Wendt aufgenommen. Er ist Leiter Kommunikation bei Wild Beauty. Das Unternehmen begann als Exklusiv-Distributeur der amerikanischen Kultmarke Paul Mitchell®, bringt heute aber mit Yours Truly auch viel Natur in deutsche und österreichische Friseursalons.
Herr Wendt: Warum ist Haarpflege von Paul Mitchell® nicht silikonfrei?
Julian Wendt, Wild Beauty: Viele veröffentlichte Studien belegen die Sicherheit von Silikonen sowie deren pflegende Eigenschaften für das Haar. Bestimmte Silikonarten lassen sich nicht so einfach aus dem Haar waschen (sogenannte nichtwasserlösliche Silikone). Die für unsere Clean Beauty verwendeten Silikone werden durch wissenschaftliche Forschung unterstützt, sind inert (verursachen keine chemischen Reaktionen) und gelten als sicher in der Anwendung.
Sie lassen sich mit etwas Shampoo und warmem Wasser gänzlich aus dem Haar entfernen und lagern sich nicht additiv auf ihm an. Solch wasserlösliche Silikone verteilen ein Produkt gut und dienen als Transportmittel, damit die Pflegestoffe dort hingelangen, wo sie hinsollen.
Sie legen sich zudem wie eine glättende Schutzschicht auf die Haaroberfläche und lassen diese besonders glänzend wirken. Sie schützen das Haar vor dem Austrocknen, verleihen ihm Glanz, und reduzieren den Widerstand beim Kämmen, so dass es weniger bricht.
Und bei Yours Truly? Hier wird auf Silikone verzichtet. Warum?
Julian Wendt, Wild Beauty: Für Yours Truly, unsere erste hauseigene Marke, wollten wir den Clean Beauty-Standard so hoch setzen wie möglich. Da Silikone aus Verbrauchersicht jedoch negative Auswirkungen haben und diese Verbraucher vor allem hinsichtlich einer Clean Beauty-Rezeptur mit silikonfreien Produkten rechnen, haben wir uns hier gegen silikonhaltige Produkte für Yours Truly entschieden. Zwar sind wir uns der nicht-negativen Auswirkungen von Silikonen bewusst, verargumentieren hier allerdings die fehlende langfristige Pflegewirkung von Silikonen, sozusagen den „vorgetäuschten“ Heilungseffekt der Haare, ohne dass sie tatsächlich repariert werden (poröse Stellen werden lediglich gekittet und der Glanz kommt nicht „aus dem Haar“,..).
Durchaus ein Spagat, gerade in der Kommunikation. Wie lösen Sie diese Herausforderung?
Julian Wendt, Wild Beauty: In der Kommunikation weisen wir eher darauf hin, wie am besten auf silikonfreie Pflege umzusteigen ist. Wir behalten hier aber natürlich die Marken im Hause im Hinterkopf und sprechen uns nicht nachhaltig gegen Silikone aus, sondern zeigen lediglich die Vorteile auf, wenn man sie weglässt.
Auch mit Jennifer Sand, Haarpflege-Expertin bei Moroccanoil, haben wir gesprochen. Die Trendmarke setzt auf die Kraft von Arganöl, verwendet aber auch Silikone in den Rezepturen.
Was spricht aus Ihrer Sicht für den Einsatz von Silikonen?
Jennifer Sand, Moroccanoil: Silikone sind heutzutage sehr anspruchsvoll und haben die Fähigkeit, einen Schutzschleier auf der Oberfläche des Haares zu erstellen. Dieser Schleier ist nahezu schwerelos, schließt die natürliche Feuchtigkeit im Haar ein und schützt die empfindliche Schuppenschicht vor Umwelt- und Styling Belastungen, wie Kämmen, Bürsten und Fönhitze.
Die in Moroccanoil verwendeten Silikone sind zum größten Teil flüchtig und tensidlöslich und lassen sich leicht mit Shampoo auswaschen. Ein Build-up Effekt, also das Anhaften von Silikonen an das Haar über die nächste Haarwäsche hinaus, ist nicht zu erwarten.
Unsere Silikone sind natürlichen Ursprungs und werden aus Sand gewonnen. Sie wirken wie ein federleichter Schmierstoff, der die Oberfläche des Haars ohne Rückstände geschmeidig macht. Dank der einzigartigen Molekularstruktur (größere Moleküle mit breiteren Abständen zwischen den einzelnen Molekülen) wird eine atmungsaktive Barriere geschaffen, ohne das Haar zu beschweren.
Gibt es Unterschiede und sogar so etwas wie besonders „gute Silikone“?
Jennifer Sand, Moroccanoil: Silikone sind synthetische polymere siliziumorganische Verbindungen. Diese können kettenförmig oder linear (INCI-Name: Dimethicone), verzweigte oder ringförmige (INCI-Namen: Cyclomethicone, Cyclopentasiloxane, Cyclohexasiloxane) sein. Die Anzahl der Polymere (gleiche, wiederkehrende Siliziumabschnitte einer Verbindung) gibt an, ob ein Silikon flüssig oder wachsartig ist. Je kürzer die Kette oder je geringer die Anzahl an Siliziumatomen in ringförmigen Verbindungen, umso leichter flüchtig sind diese Öle.
Flüchtige Silikone bleiben nicht dauerhaft auf dem Haar, sondern verdunsten mit der Zeit, bleiben jedoch lange genug im Haar, um ihre positiven Eigenschaften auch während des gesamten Haarstylingprozesses inklusive Föhnen geltend zu machen.
Silikone haben aufgrund ihrer filmbildenden Eigenschaft allgemeinen den Ruf, schlecht für das Haar zu sein. Das ist falsch. Man benötigt das richtige Maß zwischen „nur vorübergehender“ und „länger anhaltender“ Pflege für das Haar, dies kann einerseits durch die Anwendungsmenge variiert werden. In vielen Produkten werden aber auch flüchtige und nicht flüchtige Silikone kombiniert, damit sie sparsam angewendet werden können und nicht vorübergehend ein überpflegter Eindruck des Haares entsteht. Daher kann man hier nicht von „guten“ oder „schlechten“ Silikonölen sprechen.
Stichwort Umwelt: Was passiert mit Silikonen im Abwasser?
Jennifer Sand, Moroccanoil: In Folge ihrer vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten gelangen Silikonöle und deren Folgeprodukte auch ins Abwasser, und aufgrund ihrer Wasserunlöslichkeit galten Silikonöle lange als schwer biologisch abbaubar. Daher steht z.B. Ökotest der Verwendung von Silikonölen sehr kritisch gegenüber und der Begriff „schlechte“ Silikonöle wurde dadurch verstärkt. Neueste Studien einiger Hersteller ergaben, dass die Belastung durch flüchtige sowie nicht flüchtige Silikone als irrelevant anzusehen ist. In den Studien wurde festgestellt, dass sich die Abwässer nicht negativ auf deren Behandlung auswirken. Der entstehende Klärschlamm wird entweder verbrannt, deponiert oder als Dünger verwendet. Bei der Verbrennung werden die Silikonbestandteile in amorphes Siliziumdioxid umgewandelt. Ansonsten entstehen aus den Silikonbestandteilen im Klärschlamm durch Oxidationsprozesse Kohlendioxid, Kieselsäure und Wasser.
Hierzu haben wir uns die Experten-Meinung von Arnold Schäfer, Prozessführung Klärwerke bei HAMBURG WASSER, eingeholt. Herr Schäfer, ist es korrekt, dass Silikone im Abwasser gar nicht so problematisch sind, wie allgemein angenommen?
Arnold Schäfer, HAMBURG WASSER: Silikone sind chemisch Poly(organo)siloxane. Prinzipiell ist das nicht verkehrt, dass Silikone im Abwasser nicht so problematisch sind. Aber sie gehen bei der Abwassereinigung zu einem Großteil in den Klärschlamm über. Dieser Schlamm wird dann in den Faulbehältern ausgefault und aus dem organischen Anteil des Schlammes entsteht Faulgas. Leider wandern die Siloxane in Teilen ins Faulgas – bei uns waren es zeitweise 40 mg/m³ Faulgas. Wenn das Faulgas dann energetisch in Blockheizkraftwerken genutzt wird, entsteht Siliziumdioxid. Das ist auf gut Deutsch Quarzsand. Und Sand im Verbrennungstrakt ist für einen Gasmotor oder eine Turbine gar nicht witzig. Deshalb müssen wir die Siloxane im Faulgas mit Hilfe von Aktivkohlefiltern wieder herausholen. Das geht, ist aber aufwendig und verbraucht Ressourcen, wie z.B. Aktivkohle und Strom für die Entfeuchtung des Gases vor dem Filtern. Wir sind deshalb schon länger im Austausch mit der Industrie und haben zur Reduktion aufgefordert. Mittlerweile liegt der Siloxangehalt nur noch bei 10 mg/m³ Faulgas, ist also deutlich reduziert, doch auch das müssen wir mit Aktivkohle herausfiltern.
Mit Silikonen verhält es sich also wie mit so einigen Abwasser-Inhaltstoffen (Pharmazeutika, Plastik etc.): Besser, sie kommen erst gar nicht ins Abwasser, sofern man das vermeiden kann. Ansonsten müssen wir sie mühevoll, energie- und kostenintensiv herausfiltern. Ein umweltschädlicher Stoff ist Silikon aber nicht.
Verzicht ist also mit Blick auf Nachhaltigkeitsaspekte und die aktuelle Energiekrise die bessere Wahl. Doch was sind die Alternativen? Welche Rohstoffe bieten ähnliche Eigenschaften (oder vielleicht sogar bessere) als die synthetischen Klassiker? Oder sind Silikone unersetzlich in Sachen Performance?
Jennifer Sand, Moroccanoil: Es gibt mittlerweile eine Menge an alternativen Ölen, natürliche wie auch synthetische. Es kommt immer darauf an, in welchen Produkten sie für was verwendet werden.
Schwieriger ist es, alternative Lösungen für leicht flüchtige Silikonöle zu finden, welche zum Beispiel in Haarspitzenfluids oder Haarölen zu finden sind. Denn die meisten natürlichen Öle hinterlassen sichtbare und fühlbare Rückstände, die so nicht gewollt sind, weil sie sich einfach nicht vollständig „verflüchtigen“. Hier muss man meist auf synthetische Öle zurückgreifen. Großer Knackpunkt der Alternativen ist jedoch der Preis, der meist mindestens dreimal so teuer ist wie für Silikonöle.
Günstig sind Alternativen demnach nicht – doch es gibt sie. lavera zum Beispiel setzt auf das Superfood Quinoa, wie uns Experten im Gespräch verraten haben.
Dr. Henrike Neuhoff, Leitung Bereich Wissenschaft lavera: Quinoa enthält besonders viele hochwertige Proteine und essentiellen Aminosäuren, darunter Lysin, das sonst fast nur in Fleisch und Fisch vorkommt. Die kleinen wertvollen Aminosäuren können bis in das Haarinnere gelangen und die Haarstruktur von Innen stärken. Die größeren Proteine legen sich schützend auf das Haaräußere, den sogenannten Cortex und tragen dort zu Glanz, Geschmeidigkeit und Kämmbarkeit bei.
Besonders anschaulich erklärt Sabine Kästner-Schlemme, Unternehmens PR & Nachhaltigkeit die Funktion: Gepaart mit Aminosäuren und einem Pflegestoff, basierend auf Guarkernmehl bei den Shampoos und Rapsöl bei den Spülungen, dockt sich die positiv geladene lavera Wirkstoffkomposition an die „negativen“ kaputten Stellen des Haares wie ein Magnet an. Es ist also ein naturbasierendes „intelligentes“ sich selbst steuerndes Pflegesystem – das nach dem Schlüssel-Schloss Prinzip agiert und gezielt an den Haarstellen, die Pflege benötigen, aktiv wird, ohne das Haar zu beschweren.
Ja oder Nein?
Es geht also mit – und auch ohne Silikone. Die Entscheidung trifft jeder selbst. Solltet Ihr Euch gegen den Rohstoff entscheiden, ist es auf jeden Fall sinnvoll, die komplette Haarpflege auf silikonfrei umzustellen: Nur so baut Ihr die ummantelnde Schutzschicht nicht immer wieder neu auf. Als Umstellungszeitraum solltet Ihr 2-3 Wochen rechnen und ein tiefenreinigendes Shampoo anwenden. Sind dann alle Silikonreste entfernt, erwarten Euch echter Glanz und Volumen. Sogar die Trockenzeit langer Mähnen wird sich verkürzen und Stylings lassen sich mit weniger Hitze umsetzen. Auch Eure Kopfhaut wird Euch danken, denn sie kann dann wieder so richtig „durchatmen“. Hier geht’s zum Trendthema Scalp Care.